ADG-Paris
 

Die Musikstunde

 
Die Musikstunde Content : Die Musikstunde
Liebte Victor Hugo die Musik ?
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Franz Peter Schubert, Zweihundertjahrfeier (1797-1997)
Robert Schumann, musiker aus Zwickau (1810-1856)
Richard Wagner, Musiker von Meudon (1813-1883) & Stéphane Mallarmé
La Canso von Gasto Febus zu Frédéric Mistral, lyrische “Koïne” oder Stimme eines Volks?
Gabriel Fauré (1845-1924) Musiker der Ariège
Gabriel Fauré, Musiker von Verlaine
Das letzte konzert des Saals Gabriel Fauré
Rachmaninov, Musiker von Ivanovka
Tony Poncet, Tenor (1918-1979)
Die Violetta des Jahrhunderts
Schwanengesang (Schubert) - To come
An die Musik (CD1, CD2)
Huldigung an Yves Nat (1890 -1956)
Tourgueniev - Gounod - Mireille
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Die Violetta des Jahrhunderts

 

The Violetta of the Century

         ‘Amami Alfredo, amami quant’io t’amo’: niemals hat ein Liebesschrei so das Innere der Zuhörer in einem Opernhaus aufgewühlt. Violetta läuft zum Garten in der grenzenlosen Stille von Applaus, der nicht kommt.Die Augen der juwelengeschmückten Frauen glänzen seltsam, die Männer halten den Atem an, der Stab des Dirigenten (Er hat in Wien gesungen!), bleibt in der Schwebe, Alfredo erstarrt vor dieser “silbernen” Stimme, nach der Definition von Jean-Jacques Rousseau, deren Harmoniken die Sonoritäten des reinen Metalls mit dem Timbre aus feinstem Kristall verbinden: “Addio!”... 

         28. Mai 1955, Teatro alla Scala: die griechische Tragödin Maria Callas verlässt die Bühne mit dem gleichen Addio, hervorgebracht von dieser kupfernen, mit Streifen unedlen Metalls durchzogenen Stimme und den Ängsten einer nahen Vergangenheit, begrüsst von einem Orkan der Begeisterung (bezahlte Klatscher inbegriffen), wie ihn nur die Bellincioni entfesseln konnte, deren “Amami, Alfredo” man laut Tomasi di Lampedusa, Autor des Gattopardo (Der Gepard), nicht “verpassen” durfte.

         Die mächtige Stimme des Baritons Germont füllt den Saal mit ihrem Strom von Bronze (“Di Provenza il mar, il suol”), eine Stimme, deren Timbre über der Crau und der Camargue von Mirèio, die “der goldenen Sonne den braunen Bogen ihrer Augenbrauen entgegenhält”, strahlt, über den Matadoren und den Zigeunerinnen, die von weither gekommen sind und deren Vorfahren die Walachei beim Ruf des vorüberwehenden Windes verlassen haben und von Csardas zu Csardas (Gasthäuser) ziehen, wobei sie die Harmonie der Herden und die Glöckchen der Carroutzas aufeinander abstimmen, ihre Frauen oder Töchter verkaufen, wenn sie zu gehorsam oder zu verrückt sind, nicht ohne auf der Durchreise mit ihren Bögen, geteilt wie für ein grandioses Prélude und mit Mazurka Kadenzen, das Herz eines Franz Liszt zu stehlen oder das der jungen Land-Mädchen in ausgeschnittenen Blusen, die in den Ronde-Tanz (hora) mit diesem rhythmischen Schritt eintreten, der später zum Ruhm der schönen Turnerinnen gereichen wird; und dies vielleicht, um - gerechter Ausgleich ô Taven!)- die Reue des Gottes zu erfüllen, dessen Stellvertreter sie verurteilte, “sieben Jahre nicht im Bett zu schlafen”, weil sie “in den Händen der Leute” lasen ((“D’ognuno sulla mano, leggiamo l’avvenire”), bevor sie, via Vincents Valabrègue, in der Kirche von Saintes Maries de la Mer bei ihrer Schutzpatronin Sarah, Dienerin der Drei Marie, die den Herrn Jesus kannten, ankamen. 

         Denn dort unten, zwischen Rhein und Donau, gibt es ein Volk, das verwandt ist mit dem unsrigen und dessen Geschichte sich schmeichelt, Murat, kleiner Bauer aus dem Lot, zukünftiger Marschall und König von Neapel, ausgezeichnet zu haben; ein Volk, das in einem Land lebt, wo der Winter sehr lang ist, der Frühling sehr kurz, der Sommer brennend heiss, so dass er Wein und Korn der unendlichen, bis nach Baltsi wogenden Ebene zur Reife bringt, und wo die französische Sprache wie eine zweite Nationalsprache ist; ein Volk, das Frédéric Mistral in der Person des grössten seiner Dichter, Vasile Alecsandri, in seinem Gedicht A la Roumanio (1890) so grüsste:
         “Et t’appelant germano
         La Prouvenço roumano
         Te mando, o Roumanio, un rampau d’oulivié”
         (Und dich Schwester nennend,
         Die romanische Provence
         Sendet dir, oh Rumanio, einen Olivenzweig)


         Glühende Ascheteilchen zerstieben auf den Fensternscheiben des Abteils, und in der unendlichen Kurve des Schienenwegs bei Turda sieht man die schwarze Lokomotive, die die Nacht des trajanischen Dakien unter einem Mond, gleich einer frostigen Orange, durchbohrt (ô Norma!).

         Heute morgen hat Violetta Bukarest und die Ufer der Dombovitsa verlassen (“wer das Wasser der Dombovitsa getrunken hat, wird zurückkommen und wieder davon trinken”, sagt das Sprichwort) am Rande der rauhen und feenhaften Reise durch die Karpathen, die ausgezackt sind wie zarte Spitze und in der Gegend von Sinaïa wie ausgeschnitten von einer Dichterin-Königin, manchmal flankiert von sicher errichteten Burgen, um diese Sängerin festzuhalten, deren Handgelenk ein Armband aus Diamanten gross wie Haselnüsse schmückte, Geschenk des Zaren Alexander II., eine Sängerin und ferne Prinzessin, die Jules Verne, Generalsekretär der Grande Boutique, vergeblich suchte.

         Diese bläulichen Karpathen unter der Novembersonne, die auf den Gipfeln der Bucegi vokalisiert, wie die der Linda von Chamonix, und deren Spitzen heller glänzen als die Höhenrücken des Bigorre, wo Marguerite Gautier die Rekonvaleszenz ihres Herzens stärkte, mit Tälern weicher als die von Cauterets, wo Giuseppe Verdi seine Halsprobleme behandelte und gelegentlich Escudier einlud, dem er bedeutet hatte, dass “man im letzten Akt von La Traviata nicht husten darf”; während in der gedämpften Ambiance des Speisewagens pikante Sossen und Crêpe Suzette nach einem grosszügigen Wein verlangen, der unbekannt war in dem Gartenlokal “Point du Jour” in Bougival an den ruhigen Wellen der tiefen Seine zwischen der Ebene des Gabillons und der Insel Croissy (“Ah! Ah! scopriva Flora, il mio ritiro”), wo man das Murmeln der Weiden hört, wie der Cobzar es besingt:

         “Der Mond ging über die Weiden, und die ganze Nacht
         träumten die Weiden vom Blick des Monds”.


         “Was sind die Italiener glücklich!”, rief Chabrier aus (von Saint-Saëns berichtet), als er sich an das Klavier setzte, um die Phrase “Parigi, o cara” mit der gleichen Leidenschaft zu singen, mit der ein Toscanini auf die Säure in der Stimme seiner aseptischen Violetta der New Yorker Aufnahme von 1946 reagierte (“Santa Madonna, orribile!...”). 

         Es ist jetzt fern, das Parigi des Boulevard de la Madeleine, der rue d’Antin, der rue de Provence, das Paris des Palais Garnier (“Miei cari, sedete, è al convito que s’apre ogni cor”), hinter dem sich die Menge der Käufer vor Weihnachten drängt, zwei Schritte vom Theater Mogador, wo die sehr junge Violetta in der Lustigen Witwe debütierte (“non grandireste ora le danze”), bevor sie sich auseinandersetzte, in dieser wenige Meilen entfernten Kirche von Nonant-le-Pin, in der Alphonsine Plessis in die Halbwelt eintrat, und jünger als Clara Wieck, mit den schmerzlichen Tonleitern von Frauenliebe und Leben, mit denen des Liebestraums von Franz Liszt, der weiss, wie man zu Frauen spricht, oder mit L’Invitation à la Valse von Weber, bis zu der berühmten Stelle in Dur, die sie nie aufgehalten hat: D,E,D,C,D,F,E,D ... oder auch - mit dieser Kinderstimme, die in die Höhe ging bis zu... Ihm - das Prière von Gabriel Fauré, so wie später in der American Cathedral of Paris gesungen.

         Fern ist das Paris des Variété-Theaters, das in einer erstaunlichen Opera Non Stop die französischen Stimmen des Jahrhunderts begrüssen sollte (“Tra voi, tra voi, sapro dividere, il tempo mio giocondo...”), in kurzer Entfernung vom Gaumont Palace und vom Pont Caulaincourt, der die Seelen von Dumas und seiner Heldin, deren Flucht nur zum Boulevard de Clichy führen kann inmitten dieses dauernden und nächtlichen Karnevals, der, vom Moulin Rouge zum Moulin de la Galette, mit seinen künstlichen Blumen den Ennui der “wandernden Margueriten” zerstreut (“che far degg’io! ...Gioire! ...”); das Parigi der Kamelien von Madame Barjon, der Margeriten des Gartens von Croissy, der Geranie (“prendete questo fiore”), die Dumas Sohn Melanie W. schenkte, die wahre Heldin von Antony, um sie von ihrem Schmollen zu heilen und mit der er sich einmal am Pére-Lachaise Friedhof getroffen hat; das Parigi der Rosen auf dem Balkon von Maria Callas, die die Vorhänge ihrer Wohnung am Trocadéro vor dem allerletzten Finale von Amore e Morte (“Ah! Gran Dio! Morir si giovine...”) zuzog. 

         Dies ist jetzt der in Dunst und Dampf gehüllte Bahnhof, der tiefe Blick der Reisenden, die aus den weiten Steppen kommen, die grossen Avenuen mit wenigen Laternen, gefegt von einem eisigen Wind, die Fassade der rumänischen Oper, die Plakate in Blau und Rot am Anschlagbrett und auf Säulen, die Proben, die Musiker stehend, um zu sehen, wer denn diese “Stimme” ist, die Presse, die Beobachter aneinandergedrückt im Halbdunkel des Saals, die Kostümschneiderei, wo ein Bienenstock fähiger kleiner Hände summt, die das prachtvolle Kleid von Violetta nach Mass anfertigen, wie es Catherine Lebay gemacht hätte, einfache Brüsseler Schneiderin, die der Schöpfer von Monte-Christo in den Wäldern von Meudon in die Irre geführt hatte, bevor sie die Mutter des Autors von La Dame aux Camélias wurde (“Se una pudica vergine, Degli anni suoi sul fiore”), die Menge, die “hustend” auf die Öffnung der Türen wartet, nachdem sie drei Wochen lang das Telefon des Direktors in der Hoffnung auf einen zurückgegebenen Platz belagert hatte und die jetzt von Seide raschelt und die von Edelsteinen blitzt in diesem geräumigen Halbrund des Theaters, von dem aus Alexandre Korda sich zur Eroberung von Ganz-Hollywood auf den Weg machte und dessen Wände die Porträts der Stars, die die Magyar Oper seit 1948 berühmt gemacht haben, zeigen.

         In ihrer Garderobe streift Violetta, nur in der Musik von Verdi, oder fast, ihr prachtvolles Kleid aus schwarzem Taft, mit gestickten roten Bögen, über, inmitten der Blitze der Photographen, der Fragen der Journalisten (“Accompaniamentul orchestrei este foarte important pentru mine...Violeta e un rol dificil...”) vor dem letzten Vokalisieren dort oben in dem einsamen und eisigen Büro des Schriftsteller-Direktors. Der Gang, der bis zur Bühne führt, die Menge, die grollt wie ein Meer vor dem Vorhang, und schon ist das Ende des Vorspiels da, das Violettas Herzschlag beschleunigt, so wie es Herzklopfen bei Ponselle, Muzio, Sills, Olivero und anderen wie Sembrich und Caniglia verursacht hat, ohne das von la Spezia zu erwähnen, die von Paris verachtet wurde und von der Verdi erwartete, dass sie gewisse Passagen enthüllen würde, an die man nicht denkt und die “für alle neu wären”.

         In diesen Momenten des Finales “Ah, fors’ e lui”, fühlt Violetta wie ein Vorbeihuschen des Schattens der Grossen, die das Kleid der Titelrolle vor diesem gleichen Publikum getragen haben: Zeani, Cotrubas, Varady und die unvergessliche Anna Rosza-Vassilyu, sie, die die Seele der schönen Abende an der Met oder an der Scala waren oder sind, mit dieser ein wenig rauhen Sopranstimme, die das Timbre, wenn es herauskommt, kratzt; dem Pompompom von Giulinis Rachel antworten hier die racinischen Schauer einer Sarah Bernhardt, trunken von diesen vom Belcanto Abschied nehmenden Vokalisationen (“come è scritto, come scritto”, da Verdi, wenigstens behauptet Proust es, der Dame aux Camélias den Stil gegeben haben soll, der ihr in Dumas’ Werk fehlte) in dem “Sempre libera”, sehr geschätzt von der freien Strepponi, ein Abschied, der heute noch wie ein flüchtiges Licht von Angst in den starren Pupillen der grossen frühen Interpretinnen der Casa Verdi oder anderswo (weder die Freni von der Scala, noch die Sutherland von Genua - oder war es in Parma?- werden dementieren !) hervorbringt.

         Der Matador Germont, wie wahnsinnig beklatscht von einer Menge im Delirium, wird die Arena von Provenza verlassen; aber seit der Probe vom Vorabend ist diese verkürzte Version eines den Olymp des Gesangs erklimmenden Titans gezeichnet von einem seltsamen “dite alla giovine”, er, der doch einem Bastianini die Rolle des Doppels zugewiesen hätte und den anderen historisch-lyrischen Tuberosen den Rang von Vorderbühnensouffleuren; dieses “dite alla giovine”, das der Komponist in Es-Dur transponiert hat, unbemerkt, wie es scheint, von den zeitgenössischen Pseudo-Kritikern, die hartnäckig darauf bestehen, über dem Andante vom 28. Mai 1955 im Teatro alla Scala in Extase zu geraten, dieses “dite alla giovine”, höchstes Beispiel auditiver Kurzsichtigkeit (möge uns Mademoiselle Kalogeropoulos verzeihen, deren “kontra-F” in Norma(!) von diesem grossen Couturier von Saint-Remy bewundert wurde, selbst Fachmann für Alt-Partien! Was ein Argument dafür war, ihn zum Direktor der “Grande Boutique” zu ernennen (Urous pichoun Bergié!...). 

         Unter dem transparenten Négligé von Akt III, direkt vom Boulevard des Capucines und dem Paris des Boeuf Gras, wenn nicht von dem der “blague” (Humbug), verbinden sich die durchsichtigen Farbtöne des “Addio del Passato” mit der Farbe des “dor” (Kummer und Verlangen) dieses Akts, der Verdi durch Nilsson allein befriedigte, Gräfin von Casa Miranda, weil sie es mit ihrer blonden Schnee-Stimme gewagt hat, die Rolle zu verinnerlichen: “E strano!” (Es ist seltsam!)... 

         Der Vorhang ist gefallen, in unendlicher Stille. Plötzlich, wie unter der Leitung eines unsichtbaren Taktstocks, erhebt sich das Publikum und applaudiert: piano, allegro, piano, forte, fortissimo, lange, lange, frenetisch, frenetisch, ohne aufzuhören, verzweifelt...Der Dirigent, das Gesicht in Tränen, bemüht sich, mit zitternder Hand seine Unterschrift in das Goldene Buch zu setzen. In Violettas Garderobe verbeugt sich der bleiche Bariton und sagt danke; der gebrochene Tenor (“Un di felice...”) wischt sich die Schweissperlen ab, die über seinen blossen Oberkörper rinnen.

         Violetta, begleitet von dem zarten Korb kostbarer Blumen, den ihr Tutti e coro am Ende des Finales von Akt II zu Füssen dargebracht hatten, betritt den Speisesaal des Grand Hotel, inmitten der Tafelnden und der Masken am Samstagabend; das Orchester beginnt, Funiculi, funicula... zu spielen, wie im San Carlo, wie im Fenice.

         Violetta versteht und hält nicht mehr die Tränen zurück, die ihr Herz überfluten.

Ton- und Bildarchive
Opera Maghiara de Stat, Romania, 1982

Claude d’Esplas (The Music Lesson)
All rights Reserved


Übersetzung : Dagmar Coward Kuschke (Tübingen)

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